Zwei Hände halten eine Lichterkette

Leben und Selbstbestimmung - beides ist zu schützen. In der Debatte um den assistierten Suizid darf eines nicht gegen das andere ausgespielt werden.

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Assistierter Suizid

Kein Mensch darf allein gelassen werden.

Jeder Mensch möchte bis zum Ende selbstbestimmt leben. Aber was, wenn das Leben nicht mehr als lebenswert erfahren wird? Annäherung  der Landeskirche an ein schwieriges Thema.

Die medizinischen Möglichkeiten und damit unsere Vorstellung vom Sterben ändern sich; der Gedanke an Leiden und Abhängigkeit lässt viele Schwerstkranke an eine selbst gewählte Form des Todes denken. Und auch gesunde Menschen haben manchmal den Wunsch, den Zeitpunkt ihres Sterbens selbst zu bestimmen. Wie geht man damit um? Wie ist die Rechtslage?

Seitdem das Bundesverfassungsgericht  am 26. Februar 2020 das Verbot des geschäftsmäßig assistierten Suizids aufgehoben hat, beschäftigen sich auch Kirche und Diakonie intensiv mit diesem Urteil. Was werden Konsequenzen der Neufassung von § 217 Abs 1 StGB sein, und wie wird diese gesetzlich umgesetzt werden? Noch ist das nicht abzusehen.

"Der Respekt vor der Menschenwürde und im christlichen Glauben das Gebot der Nächstenliebe gebieten es, niemanden im Stich zu lassen – erst recht in einer Situation des Nachdenkens über den Suizid."

Aus dem Positionspapier der Landessynode

Auf Ihrer Frühjahrstagung 2023 diskutierte die Landessynode dieses Thema sehr offen und verabschiedete ein Positionspapier sowie eine Erweiterung der Handreichung "Meine Zeit steht in Gottes Händen" um das Thema assistierter Suizid.

Die Argumente "Lebensschutz" und "Schutz des Rechtes auf Selbstbestimmung" jeden Lebens sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden, betonte die Synode, vielmehr seien beide Werte zu schützen und müssten so aufeinander bezogen werden, dass sie "in ihrer Tragweite für die Verantwortung des Gemeinwesens im Blick auf die Debatte über den assistierten Suizid deutlich werden".
Die Frage nach assistiertem Suizid könne nicht mit einem klaren JA oder NEIN beantwortet werden, heißt es in der Handreichung. In der bayerischen Landeskirche habe Lebensschutz Vorrang. Der Wunsch nach Suizidassistenz werde aber nicht tabuisiert, sondern als Notsituation gesehen, in der  Menschen Begleitung benötigten.

Wie eine angemesse Begleitung aussehen kann, wird in der Landeskirche intensiv diskutiert. Dabei wurden folgende Grundannahmen entwickelt - ein Zwischenbericht aus dem kirchlichen Meinungsbildungsprozess.

Grundannahmen für den weiteren Diskurs

Menschliches Leben verdankt sich der Güte des Schöpfers. Menschen sind von Beginn bis zum Ende Geschöpfe Gottes. Sie erkennen ihre Gottebenbildlichkeit und ihre Würde in dieser für ihr Leben konstitutiven Beziehung zu Gott und in ihrer Geschichte mit Gott. Jedes menschliche Leben ist als verdanktes Leben auch anvertrautes Leben. In dieser Perspektive ist das eigene Leben wie das Leben jedes Menschen eine Gabe. Solches Leben bewährt sich in der Aufgabe, es aus der Gottesbeziehung heraus zu gestalten. Die Gestaltungsmöglichkeiten zu Beginn und zum Ende des Lebens haben sich – nicht zuletzt durch die Medizintechnik – enorm vergrößert und legen dem Einzelnen wie der Gesellschaft eine erhöhte Verantwortung auf. Hierin bleiben Christ:innen in all ihrem Tun und Unterlassen auf Gottes Gnade und Barmherzigkeit angewiesen.

Im Glauben an Christus und in seiner Nachfolge ist uns bewusst: Die Gabe des menschlichen Lebens ist mit dem Ruf zur Freiheit in Verantwortung verbunden. Zum Leben gehört wesentlich die Freiheit, sich ins Verhältnis zu setzen: zu sich selbst, zum Mitmenschen, zur Mitwelt und zu Gott. Im Kern zielt diese Freiheit darauf, die Beziehungen verantwortungsvoll zu gestalten und in ihnen die Lebensfreundlichkeit Gottes erkennbar werden zu lassen. Wir wissen aber auch, dass Menschen ihre Freiheit verfehlen und missbrauchen können. Sie ist stets gefährdete Freiheit. Umso entschiedener setzt die christliche Existenz auf die durch die Beziehung zu Gott eröffneten Möglichkeiten der Buße und der dankbaren Annahme erneuerter Freiheit. Das betrifft auch die Mitgestaltung der öffentlichen Ordnung, in der die Selbstbestimmung des Einzelnen ein zentrales Gut darstellt.

Im christlichen Verständnis des Menschen sind Individualität und Sozialität zum Menschsein konstitutiv. Zur Würde des als Ebenbild Gottes verstandenen Menschen gehört die wechselseitige Achtung der Selbstbestimmung der Einzelnen. Dies umfasst immer zugleich die Individualität wie die Sozialität der Einzelnen. Verbunden sind sie im Begriff der Person: Personsein ist im christlichen Horizont sowohl als individuelle Gabe und Aufgabe als auch in Beziehung auf das Mitsein mit anderen und mit Gott als soziale Gabe und Aufgabe zu verstehen. Weil die individuelle und die soziale Dimension des Personseins nicht voneinander zu trennen sind, tangiert selbstbestimmtes Leben und Sterben niemals nur jene, die über sich selbst bestimmen, sondern immer auch andere, die mittelbar von solchen Entscheidungen betroffen sind. Aus christlicher Sicht steht deshalb bei der Diskussion um den assistierten Suizid nicht die Frage im Vordergrund, wie Gelegenheiten, das Leben selbstbestimmt zu beenden, geschaffen werden können. Vielmehr sollte es darum gehen, nach Möglichkeiten zu suchen, in jeder Lebensphase beziehungsreich und wertschätzend zu leben. Das beinhaltet den Respekt vor der je persönlichen Freiheit und deshalb auch die Bereitschaft in Beziehung zu bleiben trotz ggf. unterschiedlicher Einstellungen zum erstrebten Suizid.

Kein Mensch ist je völlig unabhängig von anderen Menschen. In christlicher Perspektive ist diese Bezogenheit weder zu beklagen noch zu idealisieren. Sie verbindet Menschen auch in Leid und Schmerz, was einerseits Stütze und Trost, andererseits aber auch Belastung und Bedrohung sein kann. Wo immer Leid und Schmerzen Menschen betreffen, sollten sie nicht in Abgrenzung und Isolation führen. Vielmehr muss es darum gehen zu klären, wo und wie sie gelindert werden können und wo sie gemeinsam getragen werden können. Wo Leid und Schmerz so schwer wiegen, dass sie einem Menschen alle Lebenskraft und Perspektive nehmen, wo in der letzten Lebensphase allein der Tod als Befreiung von ihnen erwartet wird, da hören Christ:innen nicht auf, seelsorglich zu begleiten. Diese Begleitung beinhaltet auch die Erkundung von Hilfs- und Unterstützungsangeboten wie z. B. die Vermittlung von therapeutischem, ärztlichem Beistand. Zur Begleitung kann – in der Verantwortung des Einzelnen – auch die Seelsorge im Prozess des Erwägens und der Durchführung eines assistierten Suizids gehören.

Für den christlichen Glauben ist die Achtung des menschlichen Lebens von herausragender Bedeutung. Dem soll ein umfassendes präventives Schutzkonzept (Suizidprävention) entsprechen. Ein solches Schutzkonzept ist komplementär zu verstehen zu der vom BVerfG geforderten Achtung der Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung zum assistierten Suizid. Verschiedene Überlegungen und Vorschläge dazu wurden und werden im Bereich von Kirche und Diakonie entwickelt. Unbenommen der spezifischen Ausgestaltung muss es darum gehen, als Kirche und Diakonie an einem gesellschaftlichen Klima mitzuwirken, in dem alles Mögliche getan wird, „um eine Situation zu vermeiden, bei der aufgrund einer Erkrankung oder einer anderen Notsituation (vermeintlich) kein anderer Ausweg als die Selbsttötung bleibt.“ („Selbstbestimmung und Lebensschutz: Ambivalenzen im Umgang mit assistiertem Suizid. Ein Diskussionspapier der Diakonie Deutschland, 2020, S. 7). Mit Nachdruck weisen wir darauf hin: Die Humanität unseres Gemeinwesens ist daran zu messen, dass niemand meint, das eigene Leben beenden zu müssen aufgrund der Angst, nicht angemessen behandelt und versorgt zu werden oder Angehörige in ihren Lebensmöglichkeiten zu beeinträchtigen. Die Humanität unseres Gemeinwesens ist daran zu messen, dass niemand sich zum Suizid genötigt sieht, weil er oder sie alleine gelassen wird und keine Unterstützung, Beratung und Hilfe erhält. Unser aller Humanität verlangt unser bestmögliches Engagement dafür, dass flächendeckend niedrigschwellige und leicht erreichbare sowie buchstäblich naheliegende Beratungs- und Begleitungsangebote für all jene bestehen, die aus welchen Gründen auch immer Suizidgedanken hegen und geschützte Räume zum Gespräch darüber als hilfreich empfinden könnten. Der christliche Einsatz für das Leben und für den Schutz des Lebens bedarf dabei stets der Demut: Wir wissen, dass wir in einer noch nicht erlösten Welt leben und ein heiles Leben nicht allein in unserer Macht steht.

Weil wir einander annehmen sollen, wie Christus uns angenommen hat, achten wir die Freiheit und Selbstbestimmung des und der Einzelnen. Wir respektieren die Lebensentscheidungen, die Einzelne für sich treffen. Solcher Respekt ist nicht mit Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit zu verwechseln. Einander anzunehmen impliziert gegenseitige Wahrnehmung und Achtsamkeit. Einander anzunehmen blendet die Möglichkeit zu Widerspruch nicht aus, sichert aber gegenseitig die Freiheit und das Recht zu, selbstverantwortlich den je eigenen Weg zu gehen. Christ:innen verantworten ihr Tun am Ende vor Gott. Dies geschieht im Wissen darum, dass wir alle auf Gemeinschaft angewiesen sind, aber auch im Wissen darum, dass wir in den letzten, existenziellen Fragen vor Gott unvertretbar sind. Gerade weil wir daran glauben, dass jedem und jeder das eigene Leben anvertraut ist und jede und jeder dafür selbst Verantwortung zu tragen hat, respektieren wir die Entscheidung der Person im Blick auf das eigene Leben auch dann, wenn wir diese Entscheidung nur schwer oder gar nicht mittragen wollen, sondern am Ende nur an- und hinnehmen können. Dies gilt auch im Blick auf die Entscheidung zum Suizid und für die Entscheidung, für den Suizid die Beihilfe eines, einer Anderen in Anspruch zu nehmen.

Dem Respekt vor der Selbstbestimmung des Einzelnen zum Suizid korrespondiert die Sorge der Gesellschaft, dass es nach menschlichem Ermessen zweifelsfrei eine selbst-bestimmte Entscheidung ist. Selbst bestimmt wäre eine solche Entscheidung nicht, wenn sie von kurzfristigen Ohnmachtsgefühlen, auf Druck von außen oder in Verkennung der den Suizid motivierenden Faktoren begründet ist. Eine sorgfältige Prüfung der Motivlage der Suizidwilligen erscheint notwendig. Ebenso ist eine Prüfung der Motivlage auf der Seite derer angezeigt, die sich mit dem Wunsch nach assistiertem Suizid konfrontiert sehen. Dieser Prüfungsvorbehalt bedeutet nicht, dass der Wunsch nach Suizid abgewertet werden soll. Er soll sicherstellen, dass das Anliegen eines Suizidwunsches unter Einbezug aller Möglichkeiten ernst genommen werden kann. Die Angst, einschneidende Krisen nicht alleine bewältigen zu können, der Verlust an Lebensfreude und Sinnerfahrung, die Furcht, anderen zur Last zu fallen und nicht mehr geachtet zu werden, sind aus unserer Sicht und speziell aus seelsorglicher Perspektive exemplarische Beweggründe für Suizidgedanken, die unter Umständen als Ausdruck eingeschränkter Selbstbestimmung begriffen werden müssen. Hinzu kommt für uns als Christ:innen, dass wir beim Respekt vor der Selbstbestimmung jedes einzelnen Menschen das Wissen darüber nicht vergessen, dass Belastungen Menschen in den Tod treiben können. Wenn Assistenz ohne weitere Prüfung der Entscheidungsfähigkeit und der Ernsthaftigkeit ihrer Gründe abrufbar wäre, bestünde die Gefahr, dass Menschen nicht alle ihr Leben unterstützenden Möglichkeiten gewährt bekommen. Umgekehrt darf die Prüfung der Entscheidungsfähigkeit nicht so weit gehen, dass sie de facto die Umsetzung eines Suizides administrativ verunmöglicht. Weil und wenn wir die Freiheit des Einzelnen zur Selbstbestimmung über das eigene Leben und Sterben achten und schützen, sind wir es dem Schutz dieser Freiheit schuldig, dass Menschen die Chance zur Klärung und kritischen Selbstüberprüfung ihrer Motive nützen können. Diese Chance zu eröffnen, ist bei gleichzeitiger Wahrung des Respekts vor der Eigenverantwortung gerade keine Bevormundung, sondern Hilfe zur Mündigkeit.

Niemand, der für sich keine Perspektive für einen weiteren Lebenswunsch findet und dem eigenen Leben ein Ende setzen will, darf damit im Stich gelassen werden. Die christliche Nächstenliebe verurteilt nicht, noch grenzt sie aus. Sie tritt dem anderen Menschen zur Seite und hält Spannungen aus. Dies bedeutet erst recht, einem anderen Menschen in der Situation seines oder ihres Sterbewunsches beizustehen, Zeit und Raum für Klärungen der Gründe und Alternativen anzubieten, gemeinsam mit ihm oder ihr nach Möglichkeiten eines würdevollen Lebens bis zuletzt zu suchen und eine freiverantwortlich selbstbestimmte Entscheidung über das „es ist genug, ich will und kann nicht mehr leben, ich sehne den Tod herbei“ letztlich zu respektieren. Im Blick auf die Frage nach der konkreten praktischen Ausgestaltung des Beistands für Sterbewillige sind Überlegungen zu staatlich geregelten Strukturen, verpflichtender Beratung, Wahl des Arztes oder der Ärztin und der Grenze von assistiertem Suizid und Tötung auf Verlangen essentiell.

Dass es aktuell keine klare gesetzliche Regelung zu diesem  Thema gibt, wirft eine Reihe gewichtiger ethischer, sozialer, politischer, aber auch ganz praktischer Fragen auf, die derzeit ohne klare staatliche Regulierung beantwortet werden müssen. Die Landessynode bittet politisch Verantwortliche, die mit der rechtlichen Regelung befasst sind, um ein umfassendes Suizidpräventionsgesetz. Die Politik müsse definieren, "unter welchen Bedingungen und unter Beachtung welcher Vorgaben Angebote zur Beratung Suizidwilliger und erst recht zur Durchführung der Assistenz beim Suizid zulässig sind".  Dabei müsse klar sein: 

  • dass kein Mensch alleine gelassen wird, der selbstbestimmt angesichts schweren Leidens den Suizid erwägt und dafür Assistenz sucht.
  • dass Assistenz zum Suizid niemals zur Normalität des Umgangs mit schwerwiegenden Lebensproblemen und niemals zur Normalität geschäftsmäßiger Anbieter werden darf. 
  • dass die Grenzfälle einer Assistenz beim Suizid qualifizierte und staatlich anerkannte ärztliche und psychologische Beratung voraussetzen und niemals irgendwelchen Vereinen oder selbsternannten Experten überlassen werden können.
  • dass eine künftige Legalität der Assistenz beim Suizid unter bestimmten Voraussetzungen kein Einfallstor werden darf für eine Legalisierung der Tötung auf Verlangen.

08.05.2023